Bisher verfasste Rezensionen
Wenn ich erlebe, dann erinnere ich mich. Und wenn ich mich erinnere, dann versinke ich einerseits in Ohnmacht, weil das Geflecht der Erinnerung an sich substanzlos ist, weder Körper noch Wort besitzt, sich nur schwer in den Raum fallen lassen kann, und andererseits fehlen mir oft die Worte, die für die nötige Präzision sorgen, einer Erinnerung Figur verleihen zu können. Daraus resultiert Verlust, die unausweichliche Vergänglichkeit von Erinnerungen, damit einhergehend das tiefe Unvermögen, Gefühle, Erinnerungen und Gedanken, die aus den Erinnerungen resultieren, in Worte zu fassen. Es ist unglaublich schwer, ein angemessenes Alphabet für eine Grammatik zu finden, für etwas, das uns derart entgeht.
Und hier setzt der Lyrikband „zwischen die kriege geworfen“ von Philipp Létranger an.
Was wird dann aus diesen konturlosen Körpern, wenn ich mich erinnere? Ist es die Klarheit und die Schärfe, wie ich fühle, wenn ich mich erinnere? Dieser Kreislauf gleicht der Dialektik von Präsenz und Abwesenheit: Es sind die Schatten, die in die Falten des Lichts schlüpfen, und das Licht, das in den Schatten schläft. Spuren, die ich nicht löschen kann. Spuren, die ich nicht leben kann. Es ist die Macht und Ohnmacht der Worte, diese Paradoxie in Philipp Létrangers Werken, die mich als Leser zu einer unfassbar schönen Melancholie trägt. Melancholie. Die Melancholie ist das Glücklichsein der Traurigkeit. Allein darin befindet sich bereits dieser kaum zu fassende Kreislauf von Erinnern und Vergehen, von Unbekanntem und Unausgesprochenem. Die Werke buddeln sich durch das dichte Wurzelwerk des harten Erdbodens und das lyrische Ich geht den Dingen auf den Grund, fühlt sich ein, weint, struggeled, hofft, richtet sich auf und ist demütig. Diese thematische Wiederkehr des Vergangenen und des Erinnerns verweist auf die Unmöglichkeit, sich vollständig von der Vergangenheit zu lösen, und auf die Präsenz dieser Vergangenheit in jeder Gegenwart. Und die Gedichte untersuchen diese Ebenen mit einer großen Reife und großem Respekt vor dem Leben.
Wie ich finde, ist das Werk wunderschön und verdient eine klare Leseempfehlung für all jene, die sich gern in die Mikroskopie von Lyrik verlieren können und dabei Musikalität schätzen. Denn die Werke von Philipp Létranger haben davon mehr als genug.
Nachhaltigkeit ist ein diffiziles Thema in der Lyrik, und so schön und anmutig das Verve des zeitgenössischen Gestus auch scheinen mag: Mir fehlt die Nachhaltigkeit oft.
Mir fehlt die brutale Peristaltik des Ozeans in Zeilen, das sanfte und schüchterne Schippern der Verse über Rinnsale, die mich zu Smetana führen, die ruhigen Zwischentöne der Kleinen Nachtmusik und das frenetische Sativa eines Axel Zwingenbergers. Wer all diese musikalischen Pralinen zu einem Amalgam knetet, der wird in der Lyrik früher oder später auf Carolin Callies stoßen, die mich irgendwie an einen aufgebohrten und strukturierteren David Lerner erinnert. Denn einerseits wollen ihre Gedichte nur eins sein: Lyrik, und andererseits merkt man ihrer Poetik an, dass eine ganz große Liebe selbst für das kleinste Detail existiert. Auch wenn ihre Lyrikbände eine klare Linie vorgeben, so lassen Carolins Gedichte viel Freiraum für Interpretation. Und wer es liebt, seine Gehirntüte unter NOS-Gas zu setzen, damit die Kolben unter niedrigen Temperaturen noch marschieren, und wer durch die wunderschöne Landschaft aus Befremdlichkeiten düsen will, der wird bei Carolin fündig.
Zu Carolin wurde viel geschrieben: Rühmungen und Preisungen, und ich schließe mich an. Warum also diese Rezension? Nunja, in ihren Arbeiten steckt so viel mehr, als bisher herausgeschält wurde, nämlich: das stetige Neuverhandeln von Beziehungen und Grenzen. Für mich am deutlichsten wird das in ihrem Band „Fünf Sinne & ein Besteckkasten“. Schnitzereien über unsere cetaceischen Körperlandschaften: Hier sifft und speichelt es, leibert und lidgerüstet, und alles wird ausflüssig („in den aufgeschwemmten Teilen der dir vorstehenden Lidgerüste. S52, Strophe zwei“).
Natürlich wohnt jeder Mensch irgendwie in seinem eigenen Körperdorf. So mancher lebt in Wolkenkuckucksheim, und ein anderer in New York. Dieses Begreifen und dieses Hinabgleiten in den tiefen Ebenen unserer Körper offenbart den Umgang und die Beziehung zu uns selbst. Wie ich finde, darf man Carolins Werke nicht mit Feuchtgebieten vergleichen; viel mehr sind es Morastgebiete, die von Schilf und Wolkenfraktalen überwuchert sind.
So schreibt sie über „Teile“ und „Lidgerüste“, die im gleichen Maße Dinge offenbaren, die zu uns in Beziehung stehen: sei es Freundschaft, sei es die Liebe, sei es die Bildung oder das Verhältnis zu den Pommes aus der Frittenbude von Fritten-Kalle. Während unsere Körper urinieren, verschleimen und bluten, so tun das auch Beziehungen, und beim Lesen ihrer Werke entdecke ich immer wieder Neues: „Wenns im Mund also nach etwas riecht“. Hier liegt das Dyadische auf dem Geruch. Wer mir täglich vor die Nase hält und sagt, was ich nicht bin, den kann ich auch nicht mehr riechen. Und so schlage ich mich von Werk zu Werk und stoße immer wieder auf neue Querverweise und Verbindungen, und das ist genau das, was Lyrik für mich großartig macht. Es ist Mehrdeutigkeit.
Außerdem möchte ich noch erwähnen, dass mich das Rhythmusgefühl, der Wortschatz und der Umgang mit dem Wortschatz beeindruckt. Hier mal ein Jambus, dann kommt mal ein Hebungsprall, but who cares? Dann ein Daktylus, dann ein Amphibrachys, wundervoll durchgehalten, und an anderer Stelle stellt sie sämtliche Regeln auf den Kopf und "neologistet" sich durch die Verse. Wer weiß, vielleicht veröffentlicht sie irgendwann eine Arbeit, die "auf den kopfgestellt" heißt. Für Wortspielverliebte eine wahre Freude und das alles unterlegt mit sehr viel Freundlichkeit und Lebendigkeit.
Im Verlauf der Jahre haben mich einige Gedichte begleitet. Viele kamen und gingen, aber jene, die blieben, waren Werke über das Erinnern.
Jemandes Bruder starb. Daran kann man nichts ändern. Der Bruder ist Erinnerung. Jetzt ist jemandes Mutter krank. Auch sie wird bald zu einer Erinnerung.
Jemandes Haustiere werden Erinnerung, die Vergänglichkeit des eigenen Körpers, der eigenen Seele, alles, das um uns singt, dämmert, das uns nah, tief, fern und unerreichbar scheint, wird Erinnerung, bis wir schließlich selbst zu dem werden, woran sich andere erinnern. Folglich fehlt der Umstand, in dem die Erinnerungen nicht mehr sichtbar sind und nicht mehr sichtbar sein können, wenn ein Vater oder eine Mutter sich nicht mehr an ihre Kinder erinnert.
Der Gedichtband „vom aufziehbaren blechhuhn“ von Bess Dreyer ruft genau diese Themen hervor: Sie verhandeln Erinnerungen, die eigene Existenz, erkunden das Vergessen, rennen der Unerreichbarkeit einer Mutter nach, Demenz, positionieren sich neu, wollen nicht vergessen, werden vergessen, halten fest, hinterfragen, bedauern, wollen sich lösen, am Ende des Buches lieben sie. Zwischen den Seiten werde ich zu einem Betrachter der Aquarelle und Tuschezeichnungen von Johanna Hansen. Die Gedichte von Bess Dreyer und die Drucke von Johanna Hansen sind symbiotisch und funktionieren wie eine enge Freundschaft.
Ich verdaue das Lesen der Texte, dann die Grafiken, die die Prozesse Figur geben, wieder selbst zum Gegenstand des Geschriebenen werden. Das Buch öffnet lesbare Oberflächen, die in die Tiefe unserer Erinnerungen führen. Ich suchte lange nach einem für mich attraktiven Gedichteband, der diese Themen aufgreift, der für mich dieses ungestillte Verlangen nach Erinnerung, Nähe-Distanz und Sehnsüchte hervorruft, und bei Bess Dreyer wurde ich fündig – und das nachhaltig.
„Sei stark, Bruder!“, denke ich mir, wenn ich durch lyrische Wüsten wandere und unter einer Schreibblockade leide. In solchen Momenten lese ich vermehrt und, bevor ich mich wieder in meinen Introsperenzchen verliere, komme ich direkt zum Punkt: Wer ebenfalls von Zeit zu Zeit Schreibpausen benötigt, dem empfehle ich ein Werk aus der Parasitenpresse, nämlich „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“ von Kathrin Niemela.
Das Buch zeichnet sich nicht nur durch seinen Inhalt aus, sondern auch durch sprachliche Innovation. Und wem die Innovation nicht genügt, der bekommt Inspiration auf einem Walbuckel serviert. Das ist die Fähigkeit, dieses Anklingen einer Meisterschaft im Schreiben, Details derart vergrößert zu präsentieren, dass ich das Buch nur loben kann. Die thematische Vielfalt reicht von Beobachtungen auf Niemelas Reisen über authentische Ich-Lyrik und Liebesgedichte mit einem Hauch Erotik, die nie aufdringlich wirkt, doch ihre Wirkung nicht verfehlt und sie nicht verstecken will, bis hin zu tiefgründigen Auseinandersetzungen mit Lebensphilosophie, Erinnerungen und Erfahrungen, verpackt in Versen, die technisch ihresgleichen suchen.
Häufig stelle ich bei Gedichten fest, dass ein krampfhaftes Bemühen um Kreativität zu einer prätentiösen und teilweise affektierten Wirkung führt. Solche Werke nutzen oft eine Bildsprache, die eine komplexere Satzstruktur oder ein gekonntes Momentum im Versmaß erfordern würde, um zu „singen“, scheitert jedoch an technischem Unvermögen. Bei Kathrin Niemela ist dies anders. Ihr Lyrikband zeugt von Unabhängigkeit in Inhalt und Sprache und geizt nicht mit Polyglottismen, die perfekt sitzen.
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass in Lyrik jedes Wort verwendet werden darf. Und wer hier mutig ist und bereit, die eigenen kreativen Grenzen zu urigieren, hat mich als Fan schon überzeugt. Dazu kommt noch: Ich mag Lyrik, die unerfahrene Lyrikerinnen oder Einsteigerinnen lesen können, aber auch Profis, die gern analysieren und mit Tiefe arbeiten. Das bietet das Buch.
Es lohnt sich, dem Versuch nachzugeben, sich in die Gedankenwelt des Buches hineinzuversetzen; selbst im schlimmsten Fall möchte es entlang seiner Wortgewandtheit rezipiert werden, die von einer Beschwingtheit und Leichtigkeit getragen wird und stellenweise zwischen heiterem Unernst und der Empathie mit den oft allzu kurzen Momenten flüchtiger Begegnungen verläuft, die in wunderbaren Wortcollagen münden und die Werke für mich zu einem wertvollen Stück Literatur macht.
© 2024 - Matthias Schramm. Alle Rechte vorbehalten.
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